«Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihrer Aufgabe liegend.»

Rudolf Steiner
«Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft von 1923»
Artikel 4

Inhaltliche Einleitung

Während der Weihnachtstagung 1923/1924 wurde die «Anthroposophische Gesellschaft» gegründet. Nach den Worten Rudolf Steiners – ihrem Gründungsvorsitzenden – sollte sie die «modernste Gesellschaft, die es geben kann» werden. Diese Gesellschaft war so freiheitlich angelegt, dass es für eine Mitgliedschaft so gut wie keine Bedingungen gab (s. obiges Zitat der Statuten, §4).

Neben dieser neu gegründeten und freiheitlich gestalteten Mitgliedergesellschaft gab es einen «Bauverein» mit hierarchisch angelegten Statuten und lediglich 15 stimmberechtigten Mitgliedern. Dieser Trägerverein war vollkommen anders strukturiert, weil er als Eigentümer das Goetheanum mit den dazugehörigen Grundstücken zu verwalten und zu bewahren hatte.

Während der Gründungsversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft im Dezember 1923 stand die noch ungeklärte Frage im Raum, wie die Verbindung dieser zwei völlig unterschiedlichen Organisationen sinnvoll hergestellt werden könnte. In den Monaten nach dieser Gründungsversammlung wurde unter der Anleitung Rudolf Steiners und über mehrere Zwischenschritte ein passender Lösungsweg für diese Verbindung gesucht.

Bis zum 29. Dezember 1925 – neun Monate nach Rudolf Steiners Tod – gab es noch diese zwei völlig unterschiedlichen Institutionen: Die freiheitlich strukturierte Mitgliedergesellschaft «Anthroposophische Gesellschaft» und den hierarchisch strukturierten Bauträgerverein «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft». Dies ist auch in der schriftlichen Einladung zur «1. ordentlichen General-Versammlung» erkennbar, denn die Mitglieder der «Anthroposophische Gesellschaft» wurden zu einer Vorversammlung eingeladen, da sie ja nicht Mitglieder des sogenannten «Bauvereins» waren.
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Und was geschah nun an diesem denkwürdigen Tag?
Während dieser 1. Generalversammlung am 29. Dezember 1925 begann die «Kaspar-Hauser-Gefangenschaft» der freien Mitgliedergesellschaft im Kerker des hierarchischen «Bauvereins».
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Die Versammlungsleiter der 1. General-Versammlung der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» behandelten die anwesenden Mitglieder der freien Mitgliedergesellschaft «Anthroposophische Gesellschaft» wie stimmberechtigte Mitglieder, obwohl dieser Verein damals – nach Rudolf Steiners Tod – nur noch 14 stimmberechtigte Mitglieder hatte.

Über 12.000 Mitglieder der freien Mitgliedergesellschaft «Anthroposophischen Gesellschaft» wurden während dieser General-Versammlung Mitglied im ehemaligen «Bauverein», ohne es in diesem Moment zu durchschauen.

Die freilassenden Statuten der «Anthroposophischen Gesellschaft» haben mit diesem Tag ihre Verbindlichkeit verloren.

Die «Anthroposophische Gesellschaft» ist seit diesem Tag im Kerker des Bauträgers «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» gefangen. Dadurch konnte sich diese «modernste Gesellschaft, die es geben kann», in den Jahrzehnten danach nicht so entwickeln, wie es ihre zukunftsweisenden Statuten ermöglicht hätten.
Am 29. Dezember 1925 ist die «Anthroposophische Gesellschaft» zum letzten Mal in Erscheinung getreten. Seit diesem Tag befindet sie sich – seit nunmehr bald 100 Jahren – in einem Dornröschenschlaf.

Es ist an der Zeit
«das Kaspar-Hauser-Schicksal»
der Anthroposophischen Gesellschaft
zu beenden!


Auf den folgenden zwei Internetseiten möchte ich versuchen, die komplizierten Vorgänge, die mit der Begründung und mit der weiteren Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft zusammenhängen, so darzustellen, dass erkennbar werden kann, was Rudolf Steiners Absicht war und was nach seinem Tod daraus geworden ist.
Die jüngste Geschichte werde ich allerdings nicht oder nur andeutungsweise beschreiben, da die Grundlagen der großen Missverständnisse in den Anfängen der Gesellschaftsgeschichte liegen.

Auf den zwei folgenden Seiten werde ich die Geschichte und die Entwicklung der zwei völlig unterschiedlichen Organisationen beschreiben:
1. Die «Anthroposophische Gesellschaft»,
die 1923 als modernste Mitgliedergesellschaft gegründet wurde, und
2. Der «Johannesbau-Verein»,
der als Bauträgerverein in München gegründet und 1925 in «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» umbenannt und erweitert wurde.
Bei der Darstellung all dieser Prozesse werde ich mich ganz bewusst weder in Detailfragen verlieren, noch versuchen, jede Einzelheit mit entsprechenden Fakten und Dokumenten zu begründen. Dies ist bereits in der Vergangenheit von verschiedensten Autoren unternommen worden und führte auch jeweils zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Der Erfolg solcher Darstellungen war lediglich der, dass sich nur vereinzelte "Spezialisten" mit dem m. E. sehr wichtigen Thema beschäftigt hatten. Zudem habe ich mich sehr darum bemüht, die komplexen Inhalte möglichst übersichtlich darzustellen, damit durch die Art der Darstellung das Erfassen und Verstehen der Vorgänge möglichst erleichtert wird.

Wer das hier Dargestellte kritisch hinterfragen und überprüfen möchte, muss sich mit den entsprechenden Quellen beschäftigen. Einige Links dazu finden sich auf den Unterseiten.

Ich hoffe auf den zwei folgenden Seiten diese Fragen so darstellen zu können, dass jeder unbefangene Leser sich selbst seine Urteile bilden kann.
«Auf geisteswissenschaftlichem Boden vereinigt man sich dadurch, daß man differenziert, individualisiert, nicht daß man zentralisiert.»

Rudolf Steiner
«Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft»
Ansprache, GA 259, 28. 02. 1923

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