«Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihrer Aufgabe liegend.»

Rudolf Steiner
«Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft von 1923»
Artikel 4

Persönliches

1980 bin ich Mitglied in der «Anthroposophischen Gesellschaft» geworden. Seit beinahe 40 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Geschichte dieser Gesellschaft. Das Nicht-Ergreifen und Nicht- Erkennen-Wollen der mächtigen Impulse, die Rudolf Steiner mit und nach der Weihnachtstagung 1923/1924 der Welt gegeben hat, entwickelte sich nach Rudolf Steiners Tod – bis in die heutige Zeit – zu einer nicht endenden Tragödie. Zwar gab und gibt es viele kluge, persönliche Interpretationen zum Geschehen der «Weihnachtstagung», aber «Not-wendig» wäre es, dass Rudolf Steiners Impulse wirklich erkannt werden, oder, wie Marie Steiner in Bezug auf die Gegnerschaft der Anthroposophie sagte, «sachgemäß und aus der nötigen Distanz, aber eindrücklich behandelt werden» (Marie Steiner, Briefe und Dokumente).
Die wesentlichen Grundlagen für das, was auf diesen Seiten dargestellt wird, habe ich durch die Forschungsarbeiten insbesondere von Rudolf Saacke, Gerhard von Beckerath und Karl Buchleitner erhalten. Damals waren die hier vertretenen Anschauungen für die allermeisten Mitgliedern der «Anthroposophischen Gesellschaft» noch kein Thema. Die wenigen Mitglieder, welche zumindest zur Kenntnis genommen hatten, was diese Pioniere in langjähriger Arbeit erforscht hatten, bewerteten das Thema in aller Regel als unwichtig, nebensächlich oder überflüssig. Diejenigen aber, die sich wie ich intensiv mit der Konstitutionsproblematik beschäftigt hatten, wurden deswegen oft zu Außenseitern und manchmal sogar als «Gegner der Anthroposophischen Gesellschaft» eingestuft. In den 60er-Jahren kam es deswegen
zu den letzten Mitgliederausschlüssen.

1992 hatten offizielle Vertreter der «Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland» versucht, mit einer Stellungnahme im Gesellschaftsorgan «Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland» die weitere Beschäftigung mit diesem Thema endgültig zu beenden, was natürlich von vornherein zum Scheitern verurteil war. Auf diesen Versuch habe ich damals reagiert, indem ich in einem Brief an den damaligen Redakteur Justus Wittich meine Betroffenheit in dieser Sache mitgeteilt habe.

2013 habe ich mich dazu entschlossen, die Inhalte, welche ich schon seit Mitte der 1980er-Jahre vertrete, auf einer Internetseite festzuhalten und zu veröffentlichen.

2019 haben 3 offizielle Vertreter der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» Menschen, die sich intensiver mit deren Geschichte beschäftigt hatten, zu einem Kolloquium nach Stuttgart eingeladen. Initiiert wurde dieser Arbeitskreis, weil man vor Beginn der großen Feierlichkeiten zum 100-jährige Bestehen der «Anthroposophischen Gesellschaft» (Weihnachten 2023) die seit der Gründung dieser Gesellschaft ungeklärten und strittigen Fragen endlich klären wollte.
Ich wurde von Justus Wittich persönlich dazu eingeladen, an dieser Arbeit der «sachkundigen Konstitutionsforscher» teilzunehmen. Etwas über 20 Menschen trafen sich mit den drei Initiatoren am 17. Dezember 2019 im Rudolf Steiner Haus in Stuttgart zu einem ersten Arbeitstreffen.

2020 bis 2022 wurde die in Stuttgart begonnene Arbeit fortgesetzt. Nach dem zweiten Treffen am Goetheanum in Dornach im Januar 2020 konnte die begonnene Arbeit wegen der Corona-Bestimmungen nur noch online fortgeführt werden. Insgesamt trafen wir uns bis im Frühjahr 2022 zu zwanzig ZOOM-Sitzungen. Während dieser Sitzungen haben wir uns in intensiven Auseinandersetzungen darum bemüht, anhand aller vorliegenden Dokumente die Entstehungsgeschichte dieser beiden unterschiedlichen Einrichtungen erkenntnismäßig zu verstehen.

Nach unserer letzten Sitzung am 23. Juni 2022 in Stuttgart konnten erstmals in der 98-jährigen Geschichte der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» Forschungsergebnisse zu dieser Thematik veröffentlicht werden, die

1. gemeinsam, mit Beteiligung offizieller Verantwortungsträger dieser Gesellschaft, erarbeitet wurden, und

2. Antworten auf wesentlichen Fragen geben, die über Jahrzehnte nicht gesehen wurden, nicht gesehen werden wollten oder sollten und die in der Vergangenheit auch bewusst verdrängt wurden.

Das Ziel dieser Forschungsgruppe war es, alle verfügbaren Dokumente zusammenzutragen und damit – möglichst ohne Interpretationen – einen Beitrag zum Verständnis der Geschichte dieser Gesellschaft zu leisten. Diese Ziele wurden mit der Erarbeitung einer umfänglichen Chronologie im Wesentlichen erreicht. Diese «Chronologie zum Konstitutionsgeschehen der Anthroposophischen Gesellschaft nach Dokumenten» wurde inzwischen auch auf einer Internetseite des Goetheanums veröffentlicht.

Der «Konstitutions-Arbeitsgruppe» ist es während ihrer mehr als zweijährigen Arbeit gelungen, zu wesentlichen Erkenntnissen zu kommen, die in der Vergangenheit so nur von wenigen Menschen erkannt und vertreten wurden:

1. Während der Weihnachtstagung 1923/24 wurde die «Anthroposophische Gesellschaft» mit ihren bekannten Staututen gegründet, und nicht die «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft».

2. Die heutige «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» wurde 1913 als «Johannesbau-Verein» in Dornach begründet und ins Handelsregister eingetragen. 1918 wurde dieser Verein in «Verein des Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» umbenannt).

3. Die Satzungsänderungen vom 8. Februar 1925 betrafen einzig uns allein den «Verein des Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» und nicht die «Anthroposophische Gesellschaft» von 1923/24.

4. Bis zum 29. Dezember 1925, also rund 9 Monate nach Rudolf Steiners Tod, existierten noch zwei Organisationsformen mit unterschiedlichen Aufgaben, unterschiedlichen Satzungen und unterschiedlichen Zielen.

Lediglich zwei wesentliche Fragen konnten während dieser Kolloquien nicht endgültig geklärt werden, da die vorhandenen Dokumente dazu lückenhaft bzw. in Teilen unklar sind. Diese zwei von den Teilnehmern nach wie vor unterschiedlich interpretierten Fragen sind:

1. Hat Rudolf Steiner während der Weihnachtstagung 1923/24 mit der Begründung der «Anthroposophische Gesellschaft» eine Vereinsgründung beabsichtigt und durchgeführt?

2. Kann man die Darstellungen Rudolf Steiners vom 29. Juni 1924 – bei der er den Mitgliedern des Bauvereins erklärte, wie er die vier bestehenden Strömungen in eine ihnen angemessene Verbindung bringen wollte – so verstehen, dass er damals die Absicht verfolgte, die während der Weihnachtstagung gegründete «Anthroposophische Gesellschaft» ins Handelsregister einzutragen?


Neben Thomas Heck, Eva Lohmann-Heck und Frieder Sprich gehöre ich zu den Mitarbeitern der oben erwähnten «Konstitutionsgruppe», welche diese beiden Fragen eindeutig mit einem NEIN beantworten müssen.

Wie bei unseren letzten Treffen vereinbart, habe ich zu den beiden ungeklärten Punkten eine persönliche, Stellungnahme formuliert, die ich hier veröffentliche.

Es ist einerseits sehr erfreulich, dass seit 2022 - bis auf die beiden oben erwähnten noch offenen Fragen - die geschichtlichen Vorgänge rund um die Gründung der «Anthroposophischen Gesellschaft» auch von Mitgliedern der Goetheanumleitung so beschrieben und vertreten werden, wie sie auch von mir seit mehreren Jahrzehnten vertreten werden.

Andererseits ist es mehr als verwunderlich, dass auf der offiziellen Internetseite des Goetheanum nach wie vor zu lesen ist, die «Anthroposophische Gesellschaft» sei 1923 gegründet worden. Dies ist ja, wie auf dieser Internetseiten dargestellt, nicht richtig (Screenshot, April 2024).

Es ist zu vermuten, dass viele Mitglieder der Goetheanumleitung nach wie vor nicht erkennen können oder anerkennen wollen, dass die «Anthroposophische Gesellschaft» bereits 1913 als «Bauverein» gegründet worden ist. Was dies in der 100-jährigen Geschichte für eine Bedeutung hatte und nach wie vor hat, kann im Grunde nur erahnt werden. Dazu möchte ich mit meiner Internetseite einen Beitrag leisten.
«Auf geisteswissenschaftlichem Boden vereinigt man sich dadurch, daß man differenziert, individualisiert, nicht daß man zentralisiert.»

Rudolf Steiner
«Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft»
Ansprache, GA 259, 28. 02. 1923

© 2013 Silvio Michel   |   Kontakt